Geschichten
       
       
 

Fremde Gefühle

Fast ein Jahr hatte Fabian Nele nicht gesehen. Nach dem Abitur war sie nach Brisbane, Australien gegangen und hatte dort als Au pair gearbeitet. Letzte Woche war sie zurückgekehrt. Ihr Aussehen unterschied sich kaum, ihre rötlichen Haare trug sie länger und offen. Aber ihr Auftreten war selbstsicherer geworden und verlieh ihr eine besondere Ausstrahlung die Fabian bisher nicht an ihr kannte. Er betrachtete diese Veränderung zugleich mit Gefallen als auch Skepsis. Was hatte sie in diesem einen Jahr so verändert? Bis zum Abitur waren sie gemeinsame Wege gegangen und hatten stets aneinander geklebt. Sie hatten die gleichen Leistungskurse, spielten beide Volleyball, gingen gemeinsam aus, beratschlagten einander in Modefragen, redeten über jeden Unsinn und manchmal schwiegen sie auch einfach miteinander. Letzteres jedoch nur selten, denn meistens brachen die Worte ungehemmt aus Nele heraus und Fabian hatte viele Monate gebraucht ehe er einen Aus-Knopf gefunden hatte, der zu seinem Leidwesen auch nicht immer funktionierte. Vor Neles Abreise waren sie gemeinsam aber unabhängig voneinander Jungfrau geblieben und Fabian fragte sich jetzt ob sich ihre veränderte Ausstrahlung vielleicht auf erste sexuelle Erfahrungen zurückführen ließ. Nele und er waren immer nur Freunde gewesen, dennoch missfiel ihm der Gedanke.

Die Beiden liefen nebeneinander mit langsamen Schritten durch ein Waldstück, das an einem kleinen See lag. Auf seinen schmächtigen Schultern trug Fabian einen Rucksack, der mit zwei Flaschen Wasser, Schokokeksen und ein paar Äpfeln vollgepackt war. Es war einer der ersten warmen, ja fast schon heißen Frühlingstage und Fabian kam mächtig ins Schwitzen. Sein langes schwarzes Haar und noch mehr der Rücken waren total verklebt.
Im letzten Jahr hatte er auf einem seiner vielen einsamen Spaziergänge, ohne Nele hatte er den Kontakt zu seinen anderen Freunden schleifen lassen, eine Stelle am See entdeckt, die hinter Büschen und Bäumen verborgen lag. Oft war er dort gewesen und nie stieß er auf andere Menschen. Zu dieser einsamen und ruhigen Stelle führte er jetzt Nele. Bis eben hatte sie von ihren Erlebnissen in Australien erzählt, den neuen Freunden, die sie gefunden hatte, von ihrer Gastfamilie und dem ungewohnten Klima. Fabian hatte nicht versucht sie zu unterbrechen, wenngleich er schon bald nicht mehr richtig zuhörte und dazu überging Nele mit seinen Augen neu zu entdecken. Für einen Moment schwieg sie aber plötzlich von alleine. Fabian überlegte sie jetzt nach ihrer Jungfräulichkeit zu fragen, zögerte aber und schon setzten sich neue Worte aus Neles Mund in Bewegung. Wenig später schlug Fabian einen Haken, ergriff Neles Hand und zog sie durch das Gebüsch hindurch an ihr Ziel.

"Da wären wir." Mit Stolz präsentierte er Nele seine Entdeckung. Die Sonne schien auf das kleine Stück Wiese und spiegelte sich im flachen Wasser.
"Is´ ja klasse!" Für einen Moment verblassten Neles Erinnerung an Australien. Sie drehte sich zur Seite und lachte Fabian fröhlich an. Ohne ein weiteres Wort breitete sie die Wolldecke aus, die sie unter dem Arm getragen hatte und ließ sich auf sie niederfallen. Fabian zog seinen Rucksack aus und nahm neben ihr Platz. Sie lehnte sich an ihn uns so saßen sie eine Weile schweigend. Bis Nele anfing zu lachen: "Ich hab´ eine Idee. Lass uns baden gehen!"
"Baden gehen?", fragte Fabian. "Wie denn? Wir haben doch gar keine Badeklamotten. Nackt etwa?"
"Warum nicht?
"Okay." Fabian streifte sein T-Shirt ab, zog Schuhe und Socken aus und ließ seine Hose fallen, bis er nur noch in Shorts vor Nele stand. An ihrem überraschten Blick erkannte er, dass diesmal er sie erstaunt hatte. Doch sie ließ sich nicht lumpen und zog nach. Ihr Rock und ihr Top fielen und sie stand nur noch in Slip und BH vor Fabian, der sie zwar schon oft im Bikini, noch nie aber so gesehen hatte. Er spürte wie sein Mund trocken wurde.
"Dreh dich um!" Fabian war froh Neles Aufforderung nachkommen zu können. "Ich zieh jetzt den Rest aus und wehe du drehst dich um!"
Fabian kämpfte mit sich und starrte auf seine Hände, dann warf er doch einen kurzen Blick über die Schulter. Er erblickte Neles Rücken und Po, nackt. Seine Hände fingen an zu schwitzen.
"Jetzt du!", rief Nele aus dem Wasser.
Fabian schritt bis an den Wasserrand, dort zog er hastig seine Shorts aus und tauchte schnell in den See ein. Langsam schwamm er auf Nele zu. Sie stand an einer flacheren Stelle und lachte. Ihre nackten Schultern lugten aus dem Wasser und Fabian spürte Hitze in sich aufsteigen. Dicht vor Nele kam er zu stehen und plötzlich wurde ihm klar, dass er derjenige war der sich verändert hatte. Nele hatte aufgehört zu lachen und ihren Kopf leicht von Fabian abgewendet. Er erkannte die Unsicherheit in ihrem Blick, dennoch beugte er sich nach vorne und küsste sie auf den Mund. Endlos viele Wörter hatte Fabian aus den Lippen hervorbrechen sehen, die er jetzt auf den seinen spürte. Diesmal jedoch blieben sie verschlossen und Nele riss sich los. Mit weit aufgerissen Augen schaute sie Fabian an und es war Furcht, die er in ihren Augen sah. Zorn, Wut, Enttäuschung mit allem hatte er gerechnet, aber Furcht?. Sie machte kehrt und schwamm aus dem Wasser.

"Warum?", fragte Nele. Fabian war ihr gefolgt, unterwegs hatte er eilends seine Shorts übergezogen. Sie stand vor ihm in Höschen und Top. Fabians Blick fiel auf den BH, der noch im Gras lag.
"Du hast alles kaputt gemacht!", setzte Nele schließlich nach. Fabian schwieg.
"Sag´ endlich was!" Die Furcht war längst aus Neles Augen gewichen, mit traurigem Blick fixierte sie Fabian.
"Ich ... ich wollte nicht ..." Fabian stoppte kurz und sammelte sich. "Schon mal was von Liebe gehört? Dann trau dich endlich!"
"Und wenn es unsere Freundschaft zerstört?", wand Nele ein.
"Hey wir sind doch die Besten! Wir schaffen das!" Fabian war selbst überrascht wie überzeugt er die Worte hervor brachte. "Und wir werden auch die Besten bleiben. Nur anders eben." Er spielte mit einer Strähne aus Neles Haar, dann beugte er sich nach vorne und küsste sie erneut. Zunächst blieben Neles Lippen wieder verschlossen, aber langsam öffneten sie sich doch und Fabians Zunge fand ihre. Als sie wieder von sich abließen schwiegen sie verlegen. Nele war es, die als Erste Worte fand: "Der Kuss war ziemlich schlecht ... nicht?", sagte sie lachend. "Ich glaube die Besten müssen noch üben."
Fabian fiel in ihr Lachen ein ehe er sie erneut küsste. Schließlich drückte er sie ganz fest an sich. Über ihre Schultern hinweg sah er den Horizont. Das klare blau wich langsam einem zarten rot. Nach endlosen Sekunden löste Fabian sich und sah Nele an. Er war glücklich und Neles Augen verrieten ihm, dass sie es auch war.

© Lars Rindfleisch

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