Geschichten
       
       
 

Teil 2

Tatsächlich legte die "Tamara" bereits an und auch Melissa und Steffen gingen am Biebricher Abschnitt der Rettbergsaue von Bord. Sie liefen über einen kurzen gepflasterten Weg unterhalb eines hässlichen Hauses mit bogenförmigen Dächern - das Vereinshaus der Camper - und kamen auf eine große Wiese, die sich fast über das ganze Campinggelände erstreckte. Zunächst begaben sie sich zur Anmeldung, die sich einige Meter vom Rheinufer entfernt in einem flachen Holzbau befand, der leicht erhöht auf Betonpfeilern stand.
Nachdem sie sich angemeldet hatten, schlug Steffen das blaue Iglu-Zelt der Beiden im Schutz einer jungen Eiche mitten auf der großen Wiese auf, während Melissa den kleinen Sandstrand erkundete. Das Gelände wirkte verlassen, nur ein weiteres Zelt war auf der Wiese aufgebaut. Wie viele Dauercamper in den Wohnwagen am Rande des Geländes und rund um das Vereinsheim logierten war nicht zu erkennen.
"Papa, ist die blonde Frau eine Hexe?", fragte Melissa.
Steffen hatte mit zwei Campingkochern Spagetti und Tomatensoße gekocht und jetzt saßen er und Melissa zusammen auf der Wiese und aßen.
"Wie kommst du denn darauf?, fragte er zurück.
"Na, sie hat so komisch gerochen und hatte so verfilztes Haar und dann die seltsame Geschichte vom Mauerblümchen, ich hab dir ja davon erzählt, und der Sack erst."
"Hmm, ich weiß nicht. Auf jeden Fall hab ich eine ganz schön mutige Tochter, falls sie eine Hexe war."
"Stimmt." Melissa lächelte. "Aber trotzdem ein bisschen unheimlich war mir schon. Sarah ist auch gar nicht so alt wie ich am Anfang gedacht hatte. Im Gesicht sah sie sehr jung aus."
"Wer weiß, was für ein Schicksal Sarah erlitten hat.", sinnierte Steffen.
"Und vor allem, was war in dem Sack drin." Melissa ließ diese Frage keine Ruhe. "Vielleicht Juwelen von einem Raubüberfall, ein Goldschatz, oder falls sie doch eine Hexe ist, irgendwas Magisches."
"Du und deine Phantasie. Wahrscheinlich hat sie einfach ein Zelt drin oder einen Schlafsack."
"Ach Papa, sei nicht so öde. Schau jetzt sitzt sie da hinten auf einer Bank und ihren Sack hat sie immer noch bei sich. Seltsam, als ob sie auf etwas warten würde."
"Mehr als die Dunkelheit wird hier nicht mehr auf sie zu kommen. Die "Tamara" ist eben das letzte Mal für heute vorbei gefahren. Vor Morgen kommt keiner mehr von der Insel. Auch Hexen nicht, es sei denn sie haben einen fliegenden Besen in ihrem Sack. Auf dich aber wartet jetzt dein Bett."
"Papa, mach dich nicht lustig über mich! Außerdem will ich jetzt noch nicht schlafen. Ich hab mich noch gar nicht richtig umgeschaut."
"Nichts da. Es ist schon nach neun und kleine neunjährige Mädchen gehen jetzt in die Heia und basta."
"Ich bin schon fast zehn. Bitte Papa!" Melissa schaute Steffen aus kleinen blauen Kulleraugen an.
"Sieh doch mal die Wolken, es fängt eh gleich an zu regnen. Du gehst jetzt Zähne putzen und dann schlafen." Steffen ließ sich nicht erweichen. "Ich werde mal schauen, ob ich im Vereinsheim vielleicht noch ein kleines Bier bekomme."

Später in der Nacht wachte Melissa auf. Sie kramte ihre kleine Taschenlampe hervor und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zwölf, Steffen lag immer noch nicht im Zelt. Seltsam, dachte Melissa, wo er wohl sein mag. Sie steckte die Taschenlampe in die Tasche ihrer Jogginghose, die sie zum Schlafen angezogen hatte, krabbelte aus dem Zelt und schaute sich um. Es nieselte leicht. Melissas Blick fiel auf die Toilette. Wenn ich schon mal wach bin, dachte sie. Sie betrat das Damenklo, nebenan bei den Herren erklang ein tiefes Husten. "Papa?", fragte sie mit leisem Stimmchen, doch es kam keine Antwort.
Als sie wieder hinaustrat entdeckte sie etwa hundert Meter gegenüber ein flaches gusseisernes Tor und dahinter einen Weg, der zu einer großen mit Efeu berankten Villa führte. Melissa rüttelte am Tor, doch es war verschlossen. Sie überlegte kurz über es zu klettern, aber am Ende des Weges, kurz vor der Villa, befand sich ein zweites höheres Tor über das sie nicht hinüber kommen würde. Außerdem würde sie Steffen in der Villa wohl kaum finden. Vielleicht aber hat dort das Mauerblümchen gewohnt, überlegte sie, und bei dem Gedanke fröstelte es sie am ganzen Körper. Erst jetzt bemerkte sie wie frisch es geworden war und sie wollte schon zurück zum Zelt als ihr Blick auf den Spielplatz fiel, der sich in der Nähe des Vereinsheims befand. Ich bin noch nie bei Nacht gerutscht, dachte sie, rannte zur Rutsche und kletterte die Leiter hoch. Doch oben angekommen blieb sie wie versteinert stehen. Sie sah eine Gestalt, die sich am äußeren Rande des Geländes an einem hohen hölzernen Tor zu schaffen machte. Über ihrer Schulter trug sie eine Tasche. Nein, das ist nicht einfach eine Tasche, dachte Melissa und rieb sich die Augen, das ist ein Sack! Und wenn es ein Sack ist, dann ist die Gestalt bestimmt Sarah. Vorsichtig kletterte sie von der Rutsche hinunter und schaute anschließend wieder zum Tor, sah aber nur noch kurz etwas Silbernes aufblitzen. Sarah war verschwunden.
Melissa nahm ihre Verfolgung auf, sie hoffte so endlich zu erfahren, was sich in dem schwarzen Sack befand. Sie kam zu einem Schuppen in dem ein Traktor stand und Holz gelagert wurde, und an den sich das Tor anschloss durch das Sarah verschwunden war. Ein weiß-grünes Schild war daran befestigt auf dem etwas geschrieben stand, aber Melissa konnte es nicht entziffern, da es zu dunkel war. Sie schaltete ihre Taschenlampe an und las: Naturschutzgebiet. Plötzlich knackte es laut einige Meter hinter dem Tor und Melissa schaltete erschrocken die Taschenlampe aus. Für Sekunden bewegte sie sich nicht. Sie war sich mittlerweile sicher, dass bei Sarah etwas nicht mit rechten Dingen vorging. Sie wusste nur noch nicht, ob sie sich mehr davor fürchten sollte, dass Sarah eine Hexe war oder doch nur eine gewöhnliche Kriminelle.

© Lars Rindfleisch

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